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Cancel Culture und Hate im Netz – Die Schattenseiten der „sozialen“ Medien

21.02.2022  — Hannah Nielsen.  Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.

Das Phänomen der „Cancel Culture“ ist ein Konstrukt unserer Gesellschaft, um die Moral in der digitalen Welt herbeizuführen und Rassismus, Sexismus und Homophobie zu bekämpfen. Doch was als nobles Prinzip gedacht ist, kann auch schnell in eine Kultur des Hasses gegenüber Unschuldigen umschlagen, wie der Fall des „Drachenlords“ zeigt.

Cancel Culture — Was ist das?

Der Begriff Cancel Culture umschreibt das Phänomen, Personen oder Organisationen, besonders aus Wissenschaft, Kunst und Politik, die Unterstützung zu entziehen oder den Kampf anzusagen, nachdem diese (reale oder unterstellte) anstößige oder umstrittene Aussagen oder Handlungen getätigt haben. Diese Form des Boykotts prangert nicht harmlose Meinungsäußerungen an, sondern reagiert auf Fragen sozialer Gerechtigkeit, Sexismus, Rassismus und Homophobie. In den meisten Fällen wird der Begriff Cancel Culture im Zusammenhang mit „Group Shaming“ in den sozialen Medien verwendet, wo es als Instrument dient, Moral zu erzwingen.

Der ursprünglich aus den USA importierte Begriff findet seit einigen Jahren auch in Deutschland immer häufiger Verwendung. Ziel ist es, die Reputation der Zielpersonen zu beschädigen, die Berufsausübung zu verhindern oder ihre Präsenz in den Medien auszulöschen oder eben „zu canceln“, sodass man sie in den sozialen Netzwerken nicht mehr finden kann. Das Phänomen ist ein Produkt der Frustration gegenüber der Politik und fordert auf diese Weise eine politische Korrektheit im Netz ein. Prof. Dr. Oliver Bender (Professor für Wirtschaftsinformatik, Wirtschaftsethik und Informationsethik an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW) verknüpft die Cancel Culture mit der Wokeness, einer „Bewegung der Wachheit und Wachsamkeit, die aufmerksam das Geschehen in der Welt verfolgt und […] [das] Übel daraus entfernen will.“

In der Debatte um die Berechtigung der Cancel Culture äußern sich die Stimmen breit gefächert. Während einige in der Cancel Culture eine Bedrohung der Meinungsfreiheit sehen und eine Unterdrückung anderer Sichtweisen, sind Verfechter der Meinung, dass die öffentlichen Debatten insbesondere Minderheiten, deren Stimme sonst nicht gehört wird, ins Bewusstsein rücken und wichtige soziale Fragen thematisieren. Unter anderem wird an der Cancel Culture kritisiert, dass nicht die Debatte, sondern die Diskreditierung im Fokus stünde und somit mehr die „Person“ als die „Sache“ behandelt wird. Dabei werde schnell vergessen, dass jeder Mensch Fehler mache und man eine Person nicht wegen einer einzelnen Äußerung ächten solle.

Wie sozial sind soziale Medien?

Soziale Medien grenzen sich von den herkömmlichen Massenmedien ab, indem ihr Fokus nicht auf der klassischen Sender-/Empfänger-Rollenverteilung liegt, sondern der Austausch und die Kommunikation untereinander an erster Stelle stehen. In den sozialen Medien können Menschen und Gruppen über Wort, Bild und Video ihre Meinungen und Gefühle teilen. Prominente Beispiele für solche Plattformen sind Facebook, Instagram und Twitter. Nebenschauplatz dieser Medienlandschaft sind YouTube und Flickr, die zwar die Möglichkeit der Interaktion bieten, dies aber nicht der vorrangige Zweck ist.

Das Bedürfnis nach Mitspracherecht und individueller Einmischung oder Anerkennung der eigenen Meinung und Gesinnung wird durch die sozialen Medien unterstützt und gefördert. Die Aufdeckung von Missständen wie in den Fällen von #MeToo und #BlackLivesMatter, die einen internationalen, öffentlichen Diskurs auslösten, sind positive Beispiele der Wirksamkeit des problematischen Phänomens Cancel Culture auf das kulturelle und politische Leben. Doch was ist mit der anderen Seite der Münze? Die einen nutzen die sozialen Medien für Aktivismus, die anderen werden Teil einer Meute, um aus Spaß das Leben eines Menschen zu zerstören. Was in der Theorie einer Definition noch recht harmlos klingt, kann in der Praxis weitreichende Folgen haben.

Die Schattenseiten der sozialen Medien

Im Herbst letzten Jahres ist der Fall des „Drachenlords“ in den Medien behandelt worden, nachdem der Gründer des YouTube-Kanals jahrelang dem Hass und der Hetze der Kommentatoren ausgesetzt war und dann wegen Körperverletzung vor Gericht verurteilt wurde.

Rainer Winkler ist von Beruf „YouTuber“ und gibt durch Videos einen Teil seines Lebens im Netz preis. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Da er jedoch ein optisch nicht der Norm entsprechender Mann mit einem breiten, fränkischen Dialekt ist und keinen Schulabschluss hat, ein Gutachten bescheinigte ihm „verminderte Intelligenz“, wird er seit 2013 zum Opfer von einem Hassmob. Und das jeden Tag. Die noch relativ „harmlosen“ Hatespeeches in der Kommentarfunktion seines YouTube-Kanals, die laut Definition von Paul Sailer-Wlasits (Wiener Sprachphilosoph und Publizist) eine „allgemeine, sprachliche Strategie zur Herabsetzung und Demütigung von Personen, Gruppen und Ethnien [ist]“, sind schnell in ihrer Aggression und der Häufigkeit gewachsen. Ebenfalls spezifisch für Hassreden ist das Merkmal der Gewalt, da es sich dabei um eine Vorstufe der physischen Gewalt handelt.

Sascha Lobo hat für den Spiegel einen sehr ausführlichen Artikel zur ganzen Geschichte des Falles vom Anfang des YouTube-Kanals bis zur Gerichtsverhandlung im Oktober 2021, bei der Rainer Winkler zum Opfer des digitalen Staatsversagens wurde, geschrieben. E. V. Heleta zeigt drei Schlüsselpunkte von Cancel Culture auf, die sich alle auf Rainer Winklers Fall anwenden lassen:

  1. Schuldvermutung: Die Anschuldigungen gegenüber der angeprangerten Person gehen schnell vom spezifischen zum abstrakten über.

    Wenn die Kommentare anfangs auf Winklers Aussagen bezogen waren, dass er von einem bestimmten Thema keine Ahnung habe, schlagen diese schnell in eine Generalisierung um: Er sei dumm und dick und hat es nicht verdient, zu leben. Die Hater haben das Gerücht gestreut, den Drachenlord zu quälen, sei ein Spiel: Das Drachengame. Und das erklärte Ziel ist die Vernichtung des Drachens. Ein Mob von zehntausenden Menschen hat sich aus keinem ersichtlichen Grund zusammengeschlossen, um einen Menschen zu beleidigen, herabzuwürdigen, zu bedrohen und anzugreifen, um ihn in den Selbstmord zu treiben.

  2. Essentialismus: Wenn eine Person noch so viele gute Taten vollbracht haben kann, aber nach der einen schlechten beurteilt wird. Eine Person wird gehasst, weil sie einmal einen Fehler begangen hat.

    Rainer Winkler hat jahrelang dem gezielten Hass und der gezielten Gewalt des Internetmobs standgehalten und physische und emotionale Gewalt aushalten müssen. Er wird vor seinem Haus von Personen aufgesucht, die filmen, wie sie ihn provozieren und im Video öffentlich erklären, ihn dazu zu bringen, anzugreifen, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Als sich Rainer Winkler wehrt, wird er angezeigt und vor Gericht wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren Haft verurteilt.

  3. Ansteckung: Die Täter drängen ihr Umfeld, ihre Freunde und Kollegen, sich vom Opfer zu distanzieren, da sie sonst selbst „gecancelt“ werden. Die Opfer werden so von Personen und Institutionen in eine soziale Quarantäne gesteckt.

    Der Hassmob hat jahrelang an einer Täter-Opfer-Umkehr gearbeitet und mit vielen Fälschungen, den Ruf Winklers im Internet zerstört. Nicht nur, dass ihm Worte in den Mund gelegt werden oder Aussagen aus dem Kontext gerissen werden, sodass er als Holocaust-Leugner, Rassist und Frauenfeind dargestellt wird. Auch erschaffen sie digitales Material, sodass bei einer schnellen Suche im Internet Winkler als schlimme Person wirkt, die Mitleid und Hilfe nicht verdient hat. Einer der Hater bringt durch Bilder und kurze Nachrichten von „Rainer Winklarson“ den Amoklauf in Kongsberg, Norwegen, mit Winkler in Verbindung, was innerhalb kürzester Zeit in internationalen Medien kursiert. Nachdem Winkler seine Adresse im Internet preisgibt, wird das Haus des Drachenlords mit Farbbomben, fauligen Eiern und Tierkadavern beworfen und die Polizei ist gezwungen, zu mehreren Einsätzen täglich auszurücken. Der größte Einsatz: 600 bis 800 Hater versammeln sich zu einer Hass-Demo, um sich vor der „Drachenschanze“ zu versammeln, während Rainer Winkler in seinem Haus sitzt und Todesangst vor einem echten, gewaltbereiten Mob hat.

Unsere Gesellschaft wird von sozialen Emotionen geleitet. Scham ist eine Emotion, die durch die Sichtweise anderer Personen auf unsere Handlungen ausgelöst wird. Schuld hingegen braucht keine Zeugen, da die eigene Überzeugung oder der Glaube dazu anhält, sich an die gegebenen Normen zu halten und moralisch zu handeln. Cancel Culture ist eine Kultur der Scham. Begünstigt durch die transparenten und kaum existenten Grenzen zwischen Wirklichkeit und virtuellem Raum sowie die rapide Verbreitung von Informationen, wächst die Cancel Culture zu enormer Größe heran, bis auch das Rechtssystem sich dem Echo der Hater nicht mehr erwehren kann und das Opfer zum Täter werden lässt, während sich der Pöbel an der Verurteilung am Pranger ergötzt.

Was heißt das für unseren Umgang mit sozialen Medien?

Wir müssen in der digitalen Welt von einer Gesellschaft der Scham zu einer Gesellschaft der Schuld zurückkehren. Wenn Cancel Culture durch ein Konstrukt befördert wird, dass zum Mitschwimmen der Massen verleitet und eine „Justiz des Hassmobs“ begünstigt, sollten wir unser eigenes Verhalten mehr reflektieren. Warum will ich auf diese Nachricht und Aussage reagieren? Verurteile ich wirklich die Aussage oder die Person? Weiß ich wirklich, was ich verurteile oder habe ich nur die Verurteilung anderer als meine eigene Einstellung angenommen? Die Beteiligten unterschätzen häufig ihre eigene Stärke, in dem Glauben, dass ein einzelner Kommentar keinen wirklichen Schaden anrichten kann. Doch erhält eine einzelne Person tausende Nachrichten mit ähnlichem Inhalt, kann diese durch den Hass und die Gewalt niedergerungen werden.

Bild: Pixelkult (Pixabay, Pixabay License)

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