28.03.2018 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
Rechnet man auch noch Umgehungen von allgemeinverbindlichen Branchenmindestlöhnen hinzu, die es zum Beispiel am Bau oder in der Altenpflege gibt, ergibt sich für 2016 sogar eine Gesamtsumme von rund 9,9 Milliarden Euro, die Arbeitgeber durch Umgehungen von Mindestlöhnen Arbeitnehmern und Sozialversicherungen vorenthalten haben. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).
„Durch die weit verbreiteten Mindestlohn-Umgehungen werden nicht nur die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschädigt, sondern auch die Allgemeinheit. Endlich die Kontrollen zu verbessern, ist also von höchstem öffentlichen Interesse“, sagt WSI-Arbeitsmarktforscher Dr. Toralf Pusch zu seiner Untersuchung. Weibliche Beschäftigte sind von Umgehungen mehr als doppelt so oft betroffen wie Männer. In Ostdeutschland kommen Verletzungen des Mindestlohns deutlich häufiger vor als im Westen, was auch mit der geringeren Tarifbindung und weniger Betriebsräten in den neuen Ländern zusammenhängen dürfte.
Die neue Auswertung ergänzt eine Studie, die Pusch Ende Januar vorgelegt hat und korrigiert einen Fehler in den damaligen Berechnungen. Nach der neuen Auswertung bekamen 2016 rund 2,2 Millionen Beschäftigte in Deutschland weniger als den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, obwohl er ihnen zustand. Von Umgehungen des gesetzlichen Mindestlohns betroffen waren damit etwa 8 Prozent aller Arbeitnehmer. Legale Ausnahmen vom Mindestlohn sind dabei bereits herausgerechnet. In der ursprünglichen Veröffentlichung vom Januar waren die Zahl der Betroffenen mit 2,7 Millionen und die Quote mit knapp zehn Prozent angegeben. Grund für die Abweichung ist ein Fehler bei der Zuordnung von Überstunden (siehe auch den Korrekturhinweis am Ende dieser PM).
Auch die Neuberechnung zeigt sehr deutlich, dass sich Unternehmen mit Tarifvertrag und Betriebsrat weitaus konsequenter ans Mindestlohngesetz halten als Firmen, in denen beides fehlt. Im ersten Fall gaben lediglich 1,8 Prozent der Beschäftigten an, weniger als den Mindestlohn erhalten zu haben. Dagegen waren es in Betrieben ohne Tarif und Mitbestimmung 15,6 Prozent, also fast neun Mal so viele.
In der neuen Untersuchung beziffert WSI-Forscher Pusch unter anderem erstmals den durch Mindestlohnverstöße verursachten Schaden, und er kann differenzierter zeigen, welche Beschäftigten von Verstößen gegen das Mindestlohngesetz besonders betroffen sind.
Finanzielle Folgen: Die 2,2 Millionen Menschen, denen der gesetzliche Mindestlohn 2016 vorenthalten wurde, haben nach Puschs Berechnungen im Schnitt 251 Euro monatlich zu wenig erhalten. Damit summieren sich die Brutto-Lohnausfälle auf 6,5 Milliarden Euro im Jahr. Da auf die niedrigere Lohnsumme weniger Sozialabgaben anfallen, entgingen auch den Sozialversicherungen rund 2,8 Milliarden Euro, von denen rund 1,1 Milliarden Euro auf Arbeitgeberbeiträge entfielen. Zusammengenommen beläuft sich der Ausfall für Beschäftigte und Sozialkassen auf 7,6 Milliarden Euro, die sich aus der Bruttolohnsumme inklusive der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung sowie den Arbeitgeberbeiträgen zusammensetzen.
Umgehungen gibt es auch in Branchen, die über einen allgemeinverbindlich erklärten Mindestlohn verfügen und deshalb in Puschs Auswertung zum gesetzlichen Mindestlohn bislang nicht berücksichtigt waren. Auf Basis der SOEP-Daten kommt der Forscher auf gut 750.000 Betroffene in diesen Branchen, denen 2016 rund 2 Milliarden Euro an Lohn vorenthalten wurden. Den Sozialkassen entgingen etwa 820 Millionen Euro. Nach Abzug der Arbeitnehmerbeiträge ergibt sich zusammengenommen ein Ausfall für Beschäftigte und Sozialkassen in Höhe von ca. 2,3 Milliarden Euro.
Frauen mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer: Der Mindestlohn hatte eine positive Wirkung auf den Gender-Pay-Gap. So nahm der Entgeltrückstand von Frauen auf Männer am unteren Ende der Lohnverteilung zwischen 2014 und 2016 spürbar ab, weil ein Teil der besonders niedrigen Löhne angehoben wurde. Diese positive Entwicklung hätte allerdings noch deutlicher ausfallen können, denn die neuen Befunde zeigen auch, dass weibliche Beschäftigte weitaus häufiger Opfer von Mindestlohn-Umgehungen werden als Männer. Demnach wurde 2016 etwa 11,5 Prozent der weiblichen und 4,6 Prozent der männlichen Beschäftigten der Mindestlohn vorenthalten. Das korrespondiert mit dem Ergebnis, dass Umgehungen in Dienstleistungsbranchen mit vielen Kleinbetrieben und Minijobs besonders häufig sind, in denen viele weibliche Beschäftigte arbeiten.
Erhebliche regionale Unterschiede. Der Auswertung zufolge ist die Quote der betroffenen Arbeitnehmer in Ostdeutschland mit 12,6 Prozent deutlich höher als im Westen mit 7,3 Prozent, was vor allem mit der geringeren Tarifbindung in den neuen Bundesländern zusammenhängen dürfte. Zudem haben Betriebe im Osten seltener Betriebsräte, die auf die Einhaltung des Mindestlohns achten können.
Korrekturhinweis: In einer Vorläuferstudie, die am 29. Januar veröffentlicht wurde, waren höhere Zahlen zu Umgehungen genannt worden. Aufgrund eines Fehlers bei der Auswertung waren bei 9 Prozent der Beschäftigten (mit Überstunden und ohne Arbeitszeitkonto) die monatlichen bezahlten Überstunden und die wöchentliche Arbeitszeit addiert worden, um die relevante wöchentliche Arbeitszeit zu bestimmen. Die in dieser PM zitierten SOEP-Zahlen geben den korrigierten Stand wieder. Wir bedauern den Fehler sehr und bitten, ihn zu entschuldigen.
Toralf Pusch: Lohnausfälle und entgangene Sozialbeiträge durch Mindestlohnumgehungen (pdf). WSI-Policy Brief 23, März 2018.
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